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Ist das Tief und mit ihm die Aufwärtswende endlich nahe? Tja, die einen sagen so, die anderen so. Aber muss es denn nicht irgendwelche klaren Indikationen geben, anhand derer man erkennen kann, dass ein Boden da ist und man so richtig zulangen könnte? Schließlich gibt es in Sachen unterer Wendepunkte eine ganze Menge Beispiele in der Geschichte. Schön, schauen wir uns die einmal an.
In den letzten 33 Jahren gab es keinen Tag, an dem ich mich nicht mit der Börse beschäftigt hätte. Noch als Student hatte ich den Crash 1987 anhand der Reaktionen derjenigen Kommilitonen miterlebt, die da schon genug Geld für Aktien hatten … und war dann selbst und „on the job“ dabei, als nach heftigen Baissen die Aufwärtswenden 2003 und 2009 anstanden. Und die von 2020, klar. Da sollte man ja so langsam wissen, wie es geht. Und ja, alle drei unteren Wendepunkte haben eine Gemeinsamkeit:
Sie fanden im März statt. Dumm nur, dass es a) schon fast kriminell dumm wäre, deswegen den März als den einzig möglichen Monat einer Aufwärtswende auszurufen und es b) dann ja noch ein wenig dauern müsste mit dem Abwärtstrend, denn der nächste März ist noch weit weg. Schauen wir uns doch einfach mal vier Wendephasen an: 1998, 2003, 2009 und 2020.
Kann man im Chartbild irgendwelche Parallelen erkennen?
Den Crash 1987 nehme ich bewusst heraus, weil ich da für den DAX zum einen keine Open/High/Low-Kurse auf Tagesbasis in der Datenbank habe und zum anderen ein Crash halt etwas anderes ist als eine Baisse. Dafür kommt die Asien/Tigerstaaten-Krise 1998 mit hinein. Von vielen längst vergessen, aber auch überaus sportlich für die Nerven gewesen. Dazu dann die Wenden 2003, 2009 und 2020.

Dabei wähle ich eine logarithmische Skalierung, um die Bewegungen vorher und nachher besser in ihrer prozentualen Größenordnung erkennbar zu machen. Und ich packe einen Indikator mit in die Charts, von dem man vermuten könnte, dass er bei der Identifizierung eines Tiefs hilfreich sein könnte: den RSI. Und, ganz wichtig: Ich zeige die Charts auf Wochenbasis. Denn auf dieser Zeitebene sind Trendwendeformationen, Candlestick-Umkehrformationen und Signale markttechnischer Indikatoren deutlich bedeutsamer. Sehen wir uns das mal an. Beispiel 1, oben bereits abgebildet: Die Tigerstaaten-Baisse im Sommer 1998. Und da haben wir gleich mal ein Beispiel dafür, dass eine Wende ziemlich klar im Chart erkennbar sein kann. Es hatte sich auf Wochenbasis im DAX ein „Morning Star“ herausgebildet (rotze Kerze, Doji, weiße Kerze), zugleich hatte der RSI-Indikator die überverkaufte Zone erreicht. Zufall?

Dass Candlestick-Umkehrformationen und der RSI für Aufwärts-Trendwenden eine Rolle spielen, ist schon wahr, da war 1998 keine Ausnahme. Das sehen wir daran, dass der RSI bei den Trendwenden 2003 und 2009 (vorstehender und nachfolgender Chart) jeweils positive Divergenzen zum Index ausbildete, d.h. der DAX machte ein neues Tief, der RSI aber drehte über seinem vorherigen Tief nach oben. Und auch die Candlesticks zeigten Signale. 2003 hatten wir da einen „Hammer“, der zusammen mit den Wochenkerzen vorher und nachher einen, wenngleich nicht ganz regelkonformen, Morning Star ausbildete. 2009 hatte da nichts zu bieten, aber immerhin gab es auch da diese positive Divergenz des RSI. Weiter zu 2020:

2020 bildete der DAX zwar „nur“ ein „bullisch engulfing pattern“ aus, aber immerhin ist auch das ein positives Signal in den Candlesticks, außerdem war der RSI auch da wieder in die überverkaufte Zone gerutscht. Wobei man mit 2020 vorsichtig sein sollte, denn das gehörte ja doch mehr in die Kategorie „Crash“ als in die Baisse-Schublade. Aber jetzt gleich mal zu der üblichen kalten Dusche für diejenigen, die glauben, Börse sei einfach.

Auf eine erfolgreiche Wende kommen meist zwei bis drei Fehlversuche im Vorfeld
Was man gerne völlig übersieht, weil man sich bei der Suche nach wiederkehrenden Trendwende-Signalen natürlich auf diese historischen Wendepunkte fokussiert und dann eher nicht „die Umgebung beobachtet“, ist: Auf fast jede am Ende dann erfolgreiche Wende kommen vorher mehrere Fehlversuche, die allesamt zwar wie eine Wende aussahen, auch eine hätten sein können, es dann aber eben doch nicht wurden!
Schauen Sie dazu mal auf den folgenden Chart. Da habe ich jetzt ein wenig mehr der Vorgeschichte der Wende vom März 2009 eingeblendet. Im März 2008 (März, ha!) entstand ein „Morning Star“ im DAX-Chart, der mit einem überverkauften Level des RSI einherging. Daraufhin ging es zwar wochenlang aufwärts, aber die Wende wurde es eben nicht. Dann kam im Sommer 2008 ein neues Tief, das von einer positiven Divergenz im RSI begleitet wurde. Auch das zog die Kurse höher … aber auch das wurde am Ende nicht die Wende.

Und wenn Sie sich mal die Phase vom Herbst 2008 anschauen: Das erste Tief zeigte eine kleine positive Divergenz zum Index, es entstand Anfang November ein „bullish engulfing pattern“ … aber auch daraus wurde nichts.
Ist die „Kapitulation“ ein besseres Signal?
Ob man womöglich nur auf die „Kapitulation“ der Bullen warten muss, von der immer geredet wird? Das klänge irgendwie logisch. Wenn die letzten Bullen aufgeben, gehen nicht nur dem Markt die Verkäufer aus, weil dann die letzten, die noch verkaufen könnten, ausgestiegen sind. Es hieße ja auch, dass alle die negative Lage akzeptiert haben, es von hier aus also nur noch besser werden kann. Das klingt aber nur so lange logisch, bis man genauer darüber nachdenkt. Dann nämlich erkennt man: Das ist Mumpitz. Aus einer ganzen Reihe von Gründen.
Erstens hat die Lage meist kein Problem damit, einfach noch schlechter zu werden als das, was diejenigen, die das Problem bislang nicht hatten wahrhaben wollen, dann einräumen.
Zweitens ist es dann ja nicht so, wie manche Medien nach einem herben Selloff titeln, dass „niemand mehr Aktien hat“. Irgendwer muss sie ja haben, denn die Verkäufer haben sie ja irgendwem verkauft. Und die, die sie dann haben, könnten sie ebenfalls verkaufen … zu noch tieferen Kursen.
Drittens hat sich das Bild der Märkte in den letzten 30 Jahren verändert. Heute dominieren computergesteuerte Handelsprogramme das Geschehen. Und in einem Abwärtstrend können die so lange Short gehen, bis denen, die dagegen halten, das Blut aus den Ohren kommt.
Und viertens bringt eine kurzfristige Kapitulation nichts, wenn die Rahmenbedingungen dann nicht hurtig besser werden und die bisherigen Käufe nachträglich unterfüttern. Und das, genau das, ist der eigentliche Punkt in Sachen Wende!
Worauf es ankommt, ist, dass die Vorhut überlebt
Dass die letzten Bullen kapitulieren, ist ohnehin Blödsinn, weil diejenigen, die ihnen dann zu Schleuderpreisen die Aktien abkaufen, das tun, weil sie glauben, damit einen guten Schnitt zu machen. Also wechselt nur das Gesicht der Bullen, aber Leute, die auf steigende Kurse setzen, gibt es logischerweise immer. Aber das mit den Rahmenbedingungen, das ist der Punkt. Die (Achtung, grammatikalische Katastrophe) „müssen passen werden“.
Was ich damit meine, ist: Eine Wende in den Kursen greift normalerweise einer Wende bei den Rahmenbedingungen vor. Das heißt, am Tief ist die Lage noch mies, könnte sogar noch mieser werden. Aber einige, die das Gras wachsen hören (oder glauben, sie könnten es), nutzen eine bestimmte, bullische Konstellation, um kräftig zu kaufen. Das tun sie aus folgenden Gründen:
Sie waren vorher massiv Short und können es sich leisten, den Gewinn einzusammeln und auf Long zu drehen, weil ihnen, wenn es schiefgeht, immer noch ein sattes Plus aus der Short-Phase bliebe.
Sie tun das, weil sie eine chart- und markttechnisch positive Gemengelage sehen oder sogar selbst erzeugen wollen. Beispiel 2020: Der DAX setzte auf den Hochs der Jahre 2000 und 2008 auf und produzierte dabei das oben gezeigte „bullish engulfing pattern“ bei einem zugleich überverkauften RSI. Ein idealer Moment für eine Wende. Dadurch konnte man darauf hoffen, dass andere auf den Zug aufspringen werden und die eigenen, vorher gekauften Positionen in die Gewinnzone ziehen.
Sie setzen darauf, dass sich die den Markt beeinflussenden Faktoren relativ bald stabilisieren und aufhellen werden, so dass sie als „Käufer der ersten Stunde“ tatsächlich zu Beginn eines neuen Aufwärtstrends eingestiegen sind. Damit das klappt, muss diese „Vorhut“ der Wende aber überleben, was bedeutet:
Andere Akteure müssen auf diesen Zug aufspringen und die Rahmenbedingungen müssen sich wirklich verbessern. Und das klappt eben keineswegs immer, da spielt die Zeit eine entscheidende Rolle. Es darf nicht so lange dauern, dass zu viele Käufer aufgeben und wieder aussteigen. Genau das war bei den gescheiterten Wendeversuchen 2008 passiert.
Auch 2020, auch das ist vielen gar nicht mehr gegenwärtig, wäre das um ein Haar schiefgegangen. Schauen Sie nochmal auf den Chart:

Im Oktober 2020 drohte die Hoffnungs-Hausse … denn mehr war sie bis dahin ja nicht … zusammenzubrechen. Man erkannte, dass Corona in eine zweite Welle geht, Impfstoffe waren noch keine da und Donald Trump holte bei den US-Wahlumfragen auf. Der DAX kriege Anfang November nur die Kurve, weil Biden dann doch gewann und nur wenige Tage später gemeldet wurde, dass die ersten Impfstoff-Hersteller startbereit sind. Wäre das nicht so gekommen, hätten diese Signale im Candlestick-Chart und im RSI vom März nichts genutzt, es wäre trotzdem wieder rasant abwärts gegangen.
So aber wurde das Wagnis, eine Besserung der Gemengelage vorweg zu nehmen, im allerletzten Moment doch noch aufgefangen und es wurde, im Nachhinein weiß man es jetzt ja, damals aber nicht, doch „die“ Wende. Und was bedeutet das jetzt für das Hier und Heute und die Börse aktuell?
Rallyechance? Immer! Wendechance? Jetzt eher noch nicht!
Davon abgesehen, dass der DAX momentan weder eine bullische Konstellation in den Candlesticks auf Wochenbasis noch einen überverkauften RSI zu bieten hat, haben wir aktuell eine Gemengelage, die das „Überleben der Vorhut“ knifflig machen dürfte. Richtig ist zwar, dass der Markt schon einiges an „Krise“ vorweggenommen hat, dass der DAX schon 20 Prozent unter das Rekordhoch gefallen ist, obwohl die üblen Quartalsbilanzen erst jetzt nach und nach kommen werden, aber:
Wir sehen uns einer Situation gegenüber, in der Inflation mit Rezession, der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben wird. Dass man mit Nullzinsen nicht weitermachen konnte, ist zwar richtig und der Weg der Notenbanken daher wohl dummerweise für den Moment alternativlos. Aber das führt zu einer Gemengelage, die absolut alles im Hut haben könnte, was die nächsten Quartale und sogar Jahre angeht. Daher ist es nicht wahrscheinlich, dass, wer jetzt der großen Wende vorgreifen wollte, rechtzeitig von einer nachhaltigen Verbesserung der Rahmenbedingungen aufgefangen würde. Eine Rallye, die geht immer, wenn die Kurse nur schnell und weit genug gefallen sind. Aber jetzt bereits das Depot wieder randvoll mit Aktien zu packen, dafür spricht derzeit noch nichts.
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
*Charts vom 01.07.2022, Chartquelle marketmaker pp4
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