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Sind Sie bullish für den US-Aktienmarkt? Dann sehen Sie sich die 2024er-Prognose der Deutschen Bank an und ignorieren den Rest. Sind Sie bärisch für den US-Aktienmarkt? Dann sehen Sie sich die 2024er-Prognose von JPMorgan an und ignorieren den Rest. Die Ausblicke der Banken für den S&P 500 als wichtigstem US-Aktienindex gehen deutlich auseinander. Und das sollte man lieber nicht ignorieren.
Wie üblich hat Mitte November die Saison der Weissagungen begonnen. Da schauen Banken und Investmenthäuser in ihre Glaskugeln und verkünden dem gespannten Investor, womit denn im kommenden Jahr zu rechnen sei. Als Anker für den US-Aktienmarkt prophezeit man da die Jahresendlevels des marktbreiten Standard & Poor’s 500-Index. Und nicht zum ersten Mal kommt dem geneigten Anleger der Verdacht, dass die genutzten Glaskugeln womöglich von verschiedenen Herstellern stammen. Denn über die Frage, wo die Reise 2024 wohl enden mag, ist man ziemlich unterschiedlicher Ansicht, wie die folgende Grafik zeigt, die die ersten S&P 500-Prognosen für 2024 darstellt, derer ich bislang habhaft werden konnte.
Der S&P 500 hat 2024 Luft nach oben … oder doch nach unten?
4.200 Punkte sieht JPMorgan Ende des kommenden Jahres, 5.100 die Deutsche Bank. Aktueller Stand des Index am 1.12. zum Handelsende: 4.594,63 Punkte. Die bislang optimistischste von mir gefundene Variante sieht also noch 500 Punkte Luft nach oben, die pessimistischste 400 Punkte Luft nach unten. Bevor man darüber nachsinnen könnte, wer da wohl am Ende Recht behält, sticht einem eines ins Auge: Allzu breit ist diese Spanne zwischen der höchsten und niedrigsten Prognose ja nicht. Entweder ist man sich nicht recht sicher, wie es weitergeht und lehnt sich deshalb nichtweit aus dem Fenster … oder viele erwarten, dass 2024 nicht viel los sein wird am Aktienmarkt.

Dazu kommt einem sofort noch ein anderer Gedanke: Wenn diese Berechnungen in Sachen Zukunft etwas taugen, dann könnte es doch, da ja hier Experten am Werk sind, eigentlich nur ein Ergebnis geben, falls die Zukunft berechenbar wäre. Und wenn sie es nicht ist und deshalb so unterschiedliche Kursziele verkündet werden, wozu dann das Ganze?
Eine gute Frage. Letzten Endes handelt es sich bei solchen Prognosen um die Quintessenz aus einer immensen Zahl einzelner Annahmen. Und je nachdem, wie der Analyst und/oder das Computerprogramm, die zur Ermittlung eines Kursziels für den S&P 500 unbekannte Größen durch konkrete Werte ersetzen, steigt oder fällt der Wert, den der S&P 500 dann am Ende des Jahres erreichen würde. Ein gutes Beispiel dafür, wie solche offenen Fragen mit Antworten versehen werden, sind die fünf Gründe, die die BofA, d.h. die Bank of America, dafür nennt, warum der S&P 500 bis Ende nächsten Jahres 5.000 Punkte erreichen wird:
Fünf Argumente für „S&P 500 bei 5.000“ … die aber alle nur „Meinungen“ sind
1. Es herrsche keine „Partystimmung“, so die Bank, d.h. die Investoren sind nicht euphorisch. Das ist gut, denn eine zu gute Stimmung führt zu einer zu hohen Risikobereitschaft und der Gefahr, dass dem Markt die Käufer ausgehen, weil jeder bereits hoch oder voll investiert ist.
Schön und gut, aber woher wissen die BofA-Analysten, dass das 2024 so sein wird? Das stimmt sogar jetzt nur bedingt, denn der „Fear & Greed“-Index von CNN, der den Grad der Angst oder der Gier am US-Aktienmarkt misst, steht aktuell mit 67 von 100 Punkten sehr wohl in einem zumindest leicht euphorischen Bereich. Und woher in aller Welt will denn wer auch immer wissen, ob die Partystimmung nicht bereits morgen einsetzt … oder im Januar … oder im April?
2. Die Gewinnmargen der Unternehmen werden steigen. Sehr erfreulich, das bedeutet höhere Unternehmensgewinne als Fundament steigender Aktienkurse.
Aber wenn die Inflation besiegt ist, steigen die Preise nicht mehr. Wenn die Preise nicht steigen, dann können die Margen nur zulegen, wenn die Kosten sinken. Das aber würde eher zu Deflation führen, was aber die erwarteten Leitzinssenkungen stoppen würde. Und steigende Margen sind nur dann drin, wenn die Verbraucher auch fleißig immer mehr kaufen. Was indes, wenn doch die Leitzinsen sinken sollen, eher unwahrscheinlich ist, weil dann gemeinhin die Phase des Abwartens auf noch niedrigere Preise einsetzt.
3. Die Gewinne pro Aktie werden auch bei einem schwächeren Wirtschaftswachstum steigen.
Das wäre natürlich prima, ist aber letztlich nur eine andere Darstellung von „die Margen werden steigen“ und damit m.E. kein eigenständiges Argument.
4. Wahljahre sind positiv für Aktien.
Oh je. Das sind Argumente, die für mich persönlich das Ganze mit einem Schlag disqualifizieren. Ja, richtig ist, dass der Dow Jones in den letzten 120 Jahren im Schnitt in einem Präsidentschaftswahljahr etwa fünf Prozent zulegt. Aber erstens geht es, wenn man so etwas schon glaubt, obwohl man erkennen müsste, dass zig Wahlen am Ende nur einen „statistischen Matsch“ produzieren, im ersten Halbjahr solcher Jahre eher abwärts. Zweitens sind Vorwahljahre von der Durchschnittsperformance deutlich besser, Nachwahljahre genauso gut wie Wahljahre und nur Zwischenwahljahre eher mies. Und drittens ist ein Schnitt von fünf Prozent Plus ja eher kein Argument, jetzt mit Mann und Maus in Aktien einzusteigen.
5. Die Deglobalisierung ist für die USA positiv. D.h. die Verringerung von Importen soll die US-Wirtschaft stabilisieren und fördern.
Nun, das behaupten zwar viele. Aber warum hat man wohl in all den Jahren zuvor so viel ins Ausland verlagert? Weil man so billiger produzieren kann, die Gewinne damit höher sind und das entscheidend für das US-Wachstum der letzten zwanzig Jahre war. Dass jetzt das Gegenteil richtig ist, mit dem Argument „made in U.S.A.“ sei besser und die höheren Kosten durch höhere Löhne würden eben wegen der höheren Löhne durch einen steigenden Absatz von US-Produkten kompensiert, ist zwar eine nett klingende Behauptung. Aber dass die Importe aus China vor allem in schwierigen Wirtschaftsjahren steigen, die US-Exporte aber nicht, sagt eigentlich alles.
Die einen sagen so … und die anderen so
Fassen wir mal zusammen: Diese Argumente sind einfach nur Argumente, aber da ist nichts, was zwingend dazu führen müsste, dass sie eintreten bzw. richtig sind und das auch noch dazu führt, dass der S&P 500 im kommenden Jahr gut laufen und die 5.000er-Marke erreichen wird.
Und wie kommt es, dass JPMorgan mit seiner Prognose unter den hier genannten Prognosen als einziges Institut mit einem fallenden S&P 500 rechnet, das bullische Argument der Bank of America, dass die Gewinne pro Aktie steigen werden, nicht nur nicht teilt, sondern das genaue Gegenteil erwartet? JPMorgan erwartet nämlich signifikanten Druck auf die Unternehmensgewinne und empfiehlt seinen Kunden, die Risiken für 2024 herunterzufahren. Irgendwer muss da ja wohl falsch liegen?
Eine Kette aus Annahmen ist nichts anders als … raten!
In einem Jahr könnten wir womöglich feststellen, dass alle falsch lagen, weil der S&P 500 deutlich unter 4.200 oder deutlich über 5.100 Punkten ins 2024er-Jahresende ging. Und sollte eine dieser Glaskugeln doch den richtigen Wert angezeigt haben, dann war das nichts anderes als Zufall, denn überlegen wir doch mal: Wie viele offene Fragen birgt die Zukunft des neuen Jahres? Nur um mal ein paar zu nennen:
Werden die Preise durch den trotz immens teurer gewordene Kredite bislang stabilen US-Konsum weiter steigen? Oder werden die Verbraucher doch langsam einen Gang zurückschalten? Wer will das denn bitte vorhersagen? Wer sich einbildet, die immer emotionalen Kaufentscheidungen von über 300 Millionen US-Bürgern über ein ganzes Jahr vorhersehen zu wollen, tja, der bildet sich das halt nur ein.

Aber wenn man nicht weiß, ob die Preise weiter steigen, stabil bleiben oder fallen, kann man damit auch nicht vorhersagen, ob und wann die Leitzinsen fallen. Kann nicht vorhersagen, wie schnell die Kredit- und Hypothekenzinsen dann mitziehen. Und ob es mit den Zinsen dann so schnell nach unten geht, dass der US-Konsum bereits 2024 so stark anzieht, dass die Unternehmensgewinne deutlich zulegen. Denn das wäre nötig, damit die in der vorstehenden Grafik am Beispiel des Dow Jones gezeigte, historisch schon ziemlich teure Bewertung des Aktienmarkts genug sinkt, um überhaupt noch ein Argument für Käufe zu bieten.
Allerdings weiß man ja eigentlich, dass all das nicht das einzige Argument für steigende oder fallende Aktienmärkte ist. Ein Wahljahr ist nicht automatisch bullisch, es kommt immer darauf an, ob sich dadurch eine positive Perspektive für die Wirtschaft in den kommenden Jahren abzeichnet oder nicht. Dann wären da noch die Geopolitik und ihre Auswirkungen, z.B. das Verhältnis zu China, auch und gerade mit Blick auf die Frage, wer als nächster ins Weiße Haus einzieht. Oder das Verhalten der OPEC in Sachen Ölpreis, der Nahe Osten als Risikofaktor und so weiter.
All das wird von den Investoren individuell und subjektiv gewertet, d.h. wir haben nun einmal diesen ewigen Filter zwischen den Fakten und den Kursen in Form der subjektiven Beurteilung der Lage durch den Anleger. Und das will jemand vorhersagen können? Ein ulkiger Gedanke.
Die schönste Simulation taugt nichts, wenn …
Und zuletzt wäre da ja noch etwas: der Markt selbst. Der S&P 500 ist derzeit markttechnisch heiß gelaufen, weil diejenigen, die in den vergangenen Wochen wie entfesselt gekauft haben, unterstellen, dass die Inflation besiegt ist, dies zu baldigen Leitzinssenkungen führen wird und das bullisch für den Markt wäre. Angenommen, all diese Annahmen wären schlüssig und richtig, was sie meines Erachtens nicht sind:

Man hätte dieses optimale „Goldilocks“-Szenario dann ja jetzt eingepreist. Angenommen, es kommt wie unterstellt, würden diese Vorkäufe den Spielraum nach oben begrenzen. Angenommen, es käme nicht wie erhofft, würde das über kurz oder lang eine größere Korrektur auslösen. Wie das laufen wird, kann keine Simulation vorhersehen, weil nichts und niemand die Wirkung dieses emotionalen Filters zwischen Fakten und Anleger berechnen könnte. Davon natürlich ganz abgesehen, dass man die Fakten, die da dann subjektiv gewertet werden, auch noch nicht kennt.
Außerdem fließt ja momentan Geld in alle Bereiche: Dass die Renditen am Anleihemarkt im Vorgriff auf Leitzinssenkungen, von denen die US-Notenbank bislang nichts andeutet, fallen, basiert ja darauf, dass Anleihen derzeit stark gekauft werden. Deren deswegen steigenden Kurse bewirken diesen Rendite-Abstieg. Zugleich saust Gold in Richtung Allzeithoch und die Aktienmärkte in Europa und den USA klopfen ebenfalls an ihre Bestmarken. Da Geld aber nicht unbegrenzt vorhanden ist, wird gerade allerhand Kapital, das bislang als Cash-Reserve bereitstand, in den Ring geworfen. Wie viel bleibt da dann noch für ein starkes Börsenjahr 2024?
Das kommt darauf an, ob genug Anleger überzeugt sind, dass sie jetzt noch mehr kaufen und nötigenfalls alle Reserven mobilisieren müssen, weil die Party jetzt erst richtig losgeht. Aber weiß man, was zahllose Menschen morgen und übermorgen von einer Gesamtsituation halten werden, von der niemand weiß, wie sie überhaupt aussehen wird? Natürlich weiß man das nicht. Die beste Simulation taugt nichts, wenn Emotionen mitspielen. Und da es Menschen sind, die den Trend machen, sind diese Emotionen permanent mit von der Partie. Also?
Die Prognose-Argumente abzuklopfen ist sinnvoll, blind dem „Lieblings-Kursziel“ zu folgen nicht
Sich die Argumente, die da vorgebracht werden, genauer anzusehen, ist zu empfehlen, denn auf diese Weise klopft man auch die eigenen Argumente noch einmal auf ihre Tragfähigkeit ab und entdeckt womöglich so manchen wichtigen Aspekt, den man bislang nicht auf dem Zettel hatte.
Aber die Weissagungen in Form konkreter Kursziele an sich, die sollte man besser ignorieren. Zumal sie die Gefahr bergen, dass man sich einfach das Kursziel heraussucht, das am besten zur vorgefassten, eigenen Meinung passt und man dadurch nur noch starrer an eigenen Vorstellungen festhält. An Vorstellungen, die man als kluger Investor im Gegenteil immer wieder hinterfragen sollte, um nicht von einer völlig anders als gedacht laufenden Entwicklung überrumpelt zu werden.
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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